Neue Ära für Wirtschaftsstreitigkeiten in Deutschland
Deutschland führt Commercial Courts und Gerichtssprache Englisch ein. Der Beitrag gibt einen ersten Überblick über die neuen Möglichkeiten.


11. April 2025
International
TL;DR
Deutschland führt spezialisierte Gerichte für große Wirtschaftsstreitigkeiten ein, um die Attraktivität des Justizstandorts Deutschland zu steigern.
Verhandlungen können auf Englisch geführt werden.
Geschäftsgeheimnisse soll im Prozess besser geschützt werden.
Einleitung
Das Gesetz zur Stärkung des Justizstandortes Deutschland durch Einführung von Commercial Courts und der Gerichtssprache Englisch in der Zivilgerichtsbarkeit (Justizstandort-Stärkungsgesetz) ist am 1. April 2025 in Kraft getreten.
Das Gesetz bringt weitreichende Veränderungen für die Behandlung von Wirtschaftsstreitigkeiten in Deutschland. Ziel ist es, den Justizstandort Deutschland attraktiver zu machen, insbesondere für internationale Unternehmen.
Commercial Courts
Kernstück der Reform sind die neuen Commercial Courts. Nach § 119b Abs. 1 GVG können die Landesregierungen durch Rechtsverordnung solche spezialisierten Senate an Oberlandesgerichten oder Obersten Landesgerichten einrichten. Sie sind erstinstanzlich zuständig für:
Bürgerliche Rechtsstreitigkeiten zwischen Unternehmern mit Ausnahme von solchen auf dem Gebiet des gewerblichen Rechtsschutzes, des Urheberrechts sowie über Ansprüche nach dem Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb,
Streitigkeiten aus oder im Zusammenhang mit dem Erwerb eines Unternehmens oder von Anteilen an einem Unternehmen,
Streitigkeiten zwischen Gesellschaft und Mitgliedern des Leitungsorgans oder Aufsichtsrats.
Die Zuständigkeit des Commercial Courts kann auf bestimmte Sachgebiete beschränkt werden. Die Zuständigkeit kann aber auch auf Sachgebiete erstreckt werden, in denen die ausschließliche Zuständigkeit des Landgerichts oder ein sonstiger ausschließlicher Gerichtsstand vorgesehen ist.
Der Streitwert muss mindestens 500.000 Euro betragen.
Der Commercial Court wird durch ausdrückliche oder stillschweigende Vereinbarung der Parteien zuständig, sofern die Voraussetzungen von § 119b Abs. 1 GVG vorliegen. Die vereinbarte Zuständigkeit ist ausschließlich, sofern die Parteien nichts anderes ausdrücklich vereinbart haben. Unter den Voraussetzungen von § 119b Abs. 1 GVG wird der Commercial Court auch zuständig, wenn der Kläger dies in der Klageschrift beantragt hat und der Beklagte sich in der Klageerwiderung rügelos darauf einlässt.
Übersicht der Commercial Courts und Commercial Chambers in den einzelnen Bundesländern
Baden-Württemberg
Commercial Court am Oberlandesgericht Stuttgart – spezialisiert auf gesellschaftsrechtliche Streitigkeiten und Unternehmenskäufe (M&A)
Commercial Chambers am Landgericht Stuttgart
Eine Musterklausel (sog. "Stuttgarter Musterklausel") ist hier verfügbar.
Quellen: Pressemitteilung der Landesregierung Baden-Württemberg vom 1. April 2025, Commercial Court Baden Württemberg
Bayern
Commercial Court am Oberlandesgericht München
Berlin
Commercial Court am Kammergericht – spezialisiert auf Bau- und Architektenrecht
Commercial Chambers am LG Berlin II – spezialisiert auf Bau- und Architektenrecht
Quelle: Pressemitteilung des Kammergerichts vom 1. April 2025
Bremen
Commercial Court am Hanseatischen Oberlandesgericht in Bremen – spezialisiert auf Luft- und Raumfahrt, Logistik und Seehandel
Hamburg
Commercial Court am Hanseatischen Oberlandesgericht – spezialisiert auf Baurecht, Banken- und Finanzrecht, Gesellschaftsrecht und Unternehmenskäufe
Commercial Court am Hanseatischen Oberlandesgericht – spezialisiert auf Versicherungen, Transport, Schifffahrt und Verkehr
Quelle: Pressemitteilung der Freien und Hansestadt Hamburg, Commercial Court Hamburg
Hessen
Commercial Court am Oberlandesgericht Frankfurt – zum 1. Juli 2025 geplant
Commercial Chambers am Landgericht Frankfurt – zum 1. Juli 2025 geplant
Quelle: Pressemitteilung des Hessischen Ministeriums der Justiz und für den Rechtsstaat vom 1. April 2025
Niedersachsen
Commercial Courts am Oberlandesgericht Celle – voraussichtlich 2 Senate, Einführung für 2025 geplant
Eine Beschränkung auf bestimmte Zuständigkeitsbereiche nach § 119b Abs. 1 GVG ist in Niedersachsen nicht vorgesehen. Commercial Chambers werden voraussichtlich an je einem Landgericht in den drei OLG-Bezirken eingerichtet. Einzelheiten – wie etwa die Frage eines Zuständigkeitsstreitwerts auf Ebene der Commercial Chambers – werden derzeit noch geprüft und abgestimmt.
Quelle: Mitteilung der Pressestelle des Niedersächsischen Justizministeriums vom 11. April 2025
Nordrhein-Westfalen
Commercial Court am Oberlandesgericht Düsseldorf – spezialisiert auf Bau- und Architektensachen
Commercial Court am Oberlandesgericht Düsseldorf – spezialisiert auf Versicherungsrecht (insb. Vermögensschadenhaftpflichtversicherungen (D&O-Versicherungen)
Commercial Court am Oberlandesgericht Düsseldorf – spezialisiert auf gesellschaftsrechtliche und Post-M&A-Streitigkeiten
Commercial Chambers an den Landgerichten Bielefeld, Düsseldorf, Essen und Köln. Zugleich wird die an diesen Standorten bereits vorhandene, streitwertabhängige Spezialisierung für das Recht der erneuerbaren Energien (Landgerichte Bielefeld und Essen), Streitigkeiten aus dem Bereich der Informationstechnologie (Landgericht Köln) und aus Unternehmenstransaktionen (Landgericht Düsseldorf) ausgebaut, soweit auch diese Verfahren englischsprachig geführt werden sollen.
Quellen: Pressemitteilung der Landesregierung NRW vom 12. März 2025; Pressemitteilung des OLG Düsseldorf
Englische Sprache
Eine bedeutende Neuerung ist die Möglichkeit, Verfahren vollständig in englischer Sprache zu führen. § 184a Abs. 1 GVG erlaubt es den Landesregierungen, dies bei
ausgewählten Landgerichte für die dafür bestimmten Zivilkammern und Kammern für Handelssachen (Commercial Chambers),
den für Berufungen und Beschwerden zuständigen Senaten der Oberlandesgerichte über Entscheidungen der Commercial Chambers
sowie bei den Commercial Courts zuzulassen.
Die Parteien müssen die englische Verfahrenssprache ausdrücklich oder stillschweigend vereinbaren oder der Beklagte lässt sich in seiner Klageerwiderung rügelos auf diese Sprache ein (§ 184a Abs. 3 GVG).
Selbst der Bundesgerichtshof kann Verfahren auf Englisch weiterführen, wenn die Parteien dies beantragen und der zuständige Senat einwilligt (§ 184b GVG).
Schutz von Geschäftsgeheimnissen
Der Schutz von Geschäftsgeheimnissen im Prozess wird durch § 273a ZPO verbessert. Gerichte können nun streitgegenständliche Informationen als geheimhaltungsbedürftig einstufen, wenn diese als Geschäftsgeheimnis gelten können.
Neue Verfahrensregeln
Das Justizstandort-Stärkungsgesetz führt zudem neue Verfahrensregeln ein.
§ 612 ZPO verpflichtet Commercial Courts und Commercial Chambers zu einem frühen Organisationstermin, bei dem mit den Parteien Vereinbarungen über die Organisation und den Ablauf des Verfahrens getroffen werden, sofern keine sachlichen oder organisatorischen Gründe entgegenstehen. Diese Maßnahme dient der Steigerung der Verfahrenseffizienz und hat sich in der Schiedsgerichtsbarkeit als Verfahrensmanagementkonferenz bewährt (siehe z.B. Anlage 3 zur DIS-SchO). Aus meiner Erfahrung als Wirtschaftsanwalt mit über 18 Jahren Prozesserfahrung, ist diese Maßnahme sehr zu begrüßen.
Auf Antrag der Parteien kann nach § 613 ZPO ein mitlesbares Wortprotokoll erstellt werden.
Gegen erstinstanzliche Urteile des Commercial Court ist die Revision zum Bundesgerichtshof möglich. Die Revision muss nicht gesondert zugelassen werden (§ 614 ZPO).
Vorteile für Unternehmen und Rechtsanwälte
Diese Neuerungen bieten Vorteile für Unternehmen und ihre Rechtsanwälte. Die Commercial Courts sollen Expertise in Wirtschaftsfragen aufbauen. Durch die erstinstanzliche Zuständigkeit der Oberlandesgerichte können Verfahren beschleunigt werden. Die Möglichkeit englischsprachiger Verhandlungen macht den Standort für internationale Unternehmen attraktiver. Zudem sind sensible Unternehmensinformationen im Prozess besser geschützt.
Herausforderungen
Trotz dieser positiven Aspekte bleiben Herausforderungen bestehen. Die Streitwertgrenze von 500.000 Euro ist relativ hoch. Es ist zu erwarten, dass nicht alle Bundesländer Commercial Courts einrichten werden. Zudem kann der Bundesgerichtshof englischsprachige Verfahren ablehnen. Die Praxis wird zeigen, wie effektiv die neuen Gerichte arbeiten und ob sie im internationalen Wettbewerb bestehen können. Dies gilt auch für das erklärte Ziel des deutschen Gesetzgebers, die staatlichen Gerichte bei großen Wirtschaftsstreitigkeiten als Alternative zu Schiedsverfahren zu etablieren.
Fazit
Das Justizstandort-Stärkungsgesetz stellt einen wichtigen Schritt dar, um Deutschland als Standort für Wirtschaftsprozesse attraktiver zu machen. Unternehmen und ihre Berater sollten die neuen Möglichkeiten sorgfältig prüfen und nutzen. Die weitere Entwicklung bleibt zu beobachten – möglicherweise werden in Zukunft weitere Anpassungen folgen, um Deutschlands Position in diesem Bereich weiter zu stärken. Dies ist auch dringend erforderlich.